05. Juli 2011

Betrifft: Otto

Otto Habsburg war immer schon verschieden, und ist jetzt verschieden.

So ist es den österreichischen Grünen erspart geblieben, ihm als angemessene Entschädigung für den entgangenen Thron noch zur Präsidentenwahl zu verhelfen.

Das physikalische Gesetz vom steten Anwachsen der Entropie, es lebe hoch, hoch, hoch!

14. Juli 2011

Töchter Beistrich Söhne

Wenn die Stiernackenfraktion im Parlament versucht, durch Dauerreden eine Änderung der rein männlich formulierten österreichischen Bundeshymne und konkret der Zeile „Heimat bist du großer Söhne“ zu verhindern …

Wenn die Billig- und die Sehrsehrbilligpresse und ihre Klientel, die aber doch, was immer wieder überrascht, über genug Bildung verfügt, um Leserbriefe zu verfassen, prompt und wie in solchen Fällen üblich assistierend beispringt und sämtliche einschlägigen Ressentiments aufs Beste bedient …

Wenn dieses beides dem Anliegen aber erst genügend Aufmerksamkeit verschafft und erst dadurch eine Anzahl von vorher noch unentschlossenen Parlamentarierinnen, (aber mit großem Binnen-I, also in gegenderter Sprache, es sind hier also die männlichen Parlamentarier, soweit es sie betrifft, mitgemeint) - wenn dies also ein paar vorher noch unentschlossene Parlamentarierinnen einer Änderung des Textes erst zugeneigt gemacht und dadurch die nötige Mehrheit für eine Änderung verschafft hat …

Und wenn dann eine Änderung herauskommt in „Heimat großer Töchter, Söhne“, bei der anscheinend niemand mitbedacht hat, dass das Ding ja hauptsächlich zum Mitsingen da ist und von daher nun in Zukunft bei allen etwas heftiger aufwallenden österreichischen Anwandlungen, da man den Beistrich ja normalerweise nicht mitsingt, „Große Töchtersöhne“ zu Gehör gebracht werden …

Dann, ja dann befindet man sich offenbar - nehmt alles nur in allem - in einer sogenannten „Kulturnation“. In welcher nun der Katzenjammer groß ist über die übereilt angerichteten Töchtersöhne, und natürlich auf beiden Seiten.

Wie gut, dass ich als Außenstehender und grundsätzlicher Antipatriot, der das Ganze also völlig neutral betrachten kann; als einer auch, der gewiss geltend machen kann, die österreichische Seele nun schon ein wenig zu kennen - wie gut, dass ich nun hier beiden Seiten helfen kann:

Liebe Österreicherinnen (mit großem Binnen-I natürlich, alle männlichen Österreicher sind also logischerweise mitgemeint)! Man kann dies alles doch auch ansehen als einen äußerst geglückten historischen Kompromiss. Der doch auch wirklich beiden Seiten auf's Beste gerecht wird! Man könnte auch sagen, als die übliche, typisch österreichische „Schlamperei“, die ja oft genau diesen Zweck hat: Auf dass das Ergebnis keiner Seite merklich weh tun möge.

Denn für die Einen dürften diese Töchtersöhne eh leicht zu verkraften sein. Denn alle die bisher exklusiv in der Hymne vorkommenden Söhne sind schließlich die Söhne von Frauen, und alle Frauen sind ja auch Töchter, und somit hätte sich, wenn man nun von der Heimat großer Töchtersöhne singt und nicht auch von Töchtertöchtern, rein überhaupt nichts geändert.

Und die andere Fraktion, die zum Teil nun auch vorschützt, anders wäre es halt innerhalb dieser Zeile und von der Metrik her nicht gegangen, den Töchtern ebenfalls in Zukunft ausdrücklich Erwähnung zu tun, die müsste nun ja bloß an dieser Stelle ein bisschen an Tempo zulegen beim patriotischen Mitgesinge, und das Satzzeichen ebenfalls explizit mitsingen, dann geht sich das von der Metrik her ganz ebensogut auch geschlechtsneutral aus: Sich zu Österreich zu bekennen als einer „Hei-Mat gro-ßer Töchter-Beistrich-Söhne“.

Und ein Halb-Aphorismus zum Tage

(Denn heute ist bekanntlich
der französische Nationalfeiertag)

Enfants de la patrie,
Uns eint halt die Marie.

16. Juli 2011

Eine Live-Reportage
aus dem kaiserlichen Wien

7:02 Blick aus dem Fenster: Echtes Kaiserwetter!

7:21 Fernseher aufgedreht. Die Vorberichterstattung hat noch gar nicht angefangen. Zur Einstimmung Haydn aufgelegt: Streichquartett in C-Dur, op. 76, Nr. 3. Musste dabei aber vor allem an Deutschland denken.

7:35 Kinderprogramm Okidoki: Kinder sollten nicht am herabhängenden Stromkabel ziehen, wenn der damit verbundene Wasserkocher auf der Anrichte mit kochend heißem Wasser gefüllt ist. Ein vernünftiger Ratschlag, aber ein Zusammenhang mit dem Kaiserbegräbnis erschließt sich mir nicht.

8:44 Ich war fürs Wochenende einkaufen. Alle Geschäfte waren wie üblich geöffnet. Ein bewusster Affront von Seiten des Einzelhandelsverbands? Die Kassiererin im Supermarkt sah traurig aus.

9:21 Heute habe ich mir zum ersten Mal eine Kronenzeitung gekauft. Wann, wenn nicht heute? Ich war enttäuscht. Gerade einmal zwei Seiten Vorberichterstattung aufs heutige Begräbnis. In einem politischen Kommentar schreibt dazu noch Ernst Trost zur US-amerikanischen Schuldenproblematik, was ziemlich weit hergeholt und höchstens vom Namen des Autors her dem heutigen Tag angemessen ist: „Wie viele scheinbar unbesiegbare Reiche sind entschwunden. Kaum einer konnte sich vor hundert Jahren den Zusammenbruch der großen Monarchien ausmalen. Das Trauerzeremoniell für Otto von Habsburg sollten (sic!) uns Anlass sein, auch über die Nichtigkeit aller Macht nachzudenken …“ Nur zwei LeserInnenbriefe sind in der heutigen Krone so monarchenfreundlich, wie man es eigentlich von einer ganzen Zeitung mit diesem Namen hätte erwarten dürfen. Einer von einer Dame aus Klosterneuburg. Sie hat ein rührend unbeholfen daher kommendes, aber dadurch nur umso volksnäher wirkendes Gedicht gemacht. Darin heißt es u. a.: „Sein Wirken damals nicht vergolten hat,/ ist nun für unser Land kein Ruhmesblatt! / Otto von Habsburg immer hilfsbereit, / er gab so viel in seiner Lebenszeit, / zu spät rechnet man ihm sein Wirken an,/ was für Europa, Österreich getan!“ Da hört man förmlich, wie ihr beim Rezitieren vor Trauer die Stimme versagt. Von so etwas hätte ich mir mehr erwartet. Absolut unpassend dagegen die 20-seitige Beilage in der heutigen Krone, ausgerechnet mit dem Titel „Gesund“.

9:58 Auf ORF 2 läuft jetzt der Spielfilm „Kronprinz Rudolf“. Mit gutem Willen kann man dies als den Beginn der Vorberichterstattung zu den heutigen Feierlichkeiten auffassen. Denn die Titelfigur des Films war nämlich auch mit dem heute in die Kapuzinergruft zu verbringenden Otto weitläufig verwandt.

10:14 Der Film ist von Robert Dornhelm und also unerträglich schlecht. Ich will mir die Wartezeit bis 13 Uhr 10, wenn die Messe im Stefansdom beginnen wird, anderweitig vertreiben und greife in Gedanken verloren in mein Bücherregal und ziehe mir den Bildband mit den berühmtesten Ärzten der Menschheitsgeschichte heraus. Ich schlage ihn aufs Geradewohl auf und stoße nun ausgerechnet, was mich tief erschrocken macht, auf Dr. Guillotin! Manche Menschen sagen ja, es gebe keine Zufälle. Dies war aber mit Sicherheit einer!

10:38 Ich will mich auf angemessenere Weise auf die Ereignisse des Tages einstimmen und höre in die vom ORF produzierte CD-Serie mit den „Letzten Tagen der Menschheit“ rein. Die historisch verbürgte Szene mit dem kaiserlichen Oberbefehlshaber, wie er im Kinosaal sitzt und eine Kriegswochenschau ansieht und bei jeder Explosion auf der damals noch stummen Leinwand entfährt ihm ganz kindlich spontan ein „Bumsti!“ - ich kann sie nicht oft genug hören! Und ich weiß gar nicht: Ist Otto von Habsburg eigentlich still entschlafen oder war er gerade irgendwo unterwegs und plötzlich machte es ein kleines „Bumsti“ und da lag er dann?

11:18 Die Kammerdiener unseres Herrn Bundespräsidenten dürften nun gerade damit fertig geworden sein, ihm alle Orden anzuheften, die Schärpe umzulegen und ihn für den Gang zum Stefansdom ausgehfertig zu machen.

12:00 Weil das österreichische Bundesheer späterhin noch einen Artillerie-Salut abfeuern wird, ist es zu empfehlen, in fünf Kilometer Luftlinie um den Heldenplatz herum, wenn Ihnen das noch möglich ist, Ihre Fensterscheiben mit Polstern und vorgehängten Bettdecken zu schützen.

12:10 Durchsage im Rundfunk. Die U-Bahn-Station Stefansplatz wird aus Sicherheitsgründen bis heute abend nicht bedient werden. Das ist blöd! Das Kaiserbegräbnis sollte nicht zuletzt auch den Fremdenverkehr heben helfen. Jetzt wird es stattdessen heut vor allem eine Menge verwirrter Touristen geben.

12:18 Unser Bundeskanzler Faymann lässt mitteilen, er wird sich ein wenig verspäten. Er konnte erst die Orden lang nicht finden.

12:30 In ORF 2 läuft jetzt ein Dokumentarfilm über Monarchenbegräbnisse. So richtig fette Blumenmeere gibt es ja in jüngster Zeit erst wieder seit dem rätselhaften Tod der Prinzessin Diana. Verschwörungstheorien machten damals die Runde. Hatte vielleicht Elton John seine Hände mit im Spiel, um danach seinen Hit von der „Candle in the Wind“ landen zu können? Wer weiß, wer weiß? Otto von Habsburg wirkte bis vor kurzem eigentlich auch noch ganz frisch und rüstig für sein Alter, wenn ich's recht bedenke.

12:46 In der Doku über die Monarchenbegräbnisse erfahre ich, dass auch Gratzia Patritzia bereits gestorben ist. Ich wusste das noch gar nicht. Ein tragischer Autounfall. Ein Fluch scheint auf diesen Adelshäusern zu liegen!

13:03 In der ZIB 13 wurde von sog. Traditionsverbänden berichtet, die sich zahlreich seit 11 Uhr am Stefansdom versammelt haben, um Otto von Habsburg-Lothringen, dem sie sich traditionell verbunden fühlen, die letzte Ehre zu erweisen. Auch Kaiser Gaddafi hat sich in dieser ZIB publicitywirksam auf die Wiener Ereignisse bezogen. Er gedenkt nämlich ebenfalls nicht, offiziell auf Machtansprüche zu verzichten. Nach den Nachrichten fängt jetzt dann endlich die Live-Übertragung an: „Abschied von Otto Habsburg“. Das von von Otto von Habsburg hat der ORF offenbar, vom -Lothringen ganz zu schweigen, im Sinne eines eingängigeren Titels einfach weggelassen!

13:24 Vorberichte im TV: Eine Würdigung seines Lebens. Er hieß eigentlich gar nicht hauptsächlich Otto, sondern z. B. Franz Josef, Pius und noch ca. elf andere Vornamen. Schockierende Hintergründe zur heute anstehenden Zeremonie: Wenn sie ihm jetzt dann später das Herz rausreißen, ich weiß nicht, ob ich mir das anschauen soll.

13:32 Mit Hitler, erfahre ich im TV, ist er nicht wirklich warm geworden.

13:38 Der Renner war schuld an der nach dem zweiten Weltkrieg fortdauernden Verbannung der Habsburger aus Österreich, aber in Madeira scheint oft die Sonne und war es auch ganz schön.

13:44 Arme Schlucker waren's, fast kein Grundeigentum hatten's mehr, die Villa Austria am Starnberger See war eine Bruchbude und sie waren praktisch von den Almosen der anderen Adelshäuser abhängig. …

13:47 Er war auch historisch sehr versiert und er war's - was ich noch nicht wusste - der den Ausspruch geprägt hat von Österreich als Hitlers erstem Opfer.

14:03 Selbst die ehedem so halsstarrigen Tschechen, sagt in einem Vorbericht Rittmeister Herzog Fürst Graf Stallbursch von und zu Schwarzenberg, seines Zeichens immerhin aktueller tschechischer Außenminister, sehen die Unterdrückung durch die Habsburger und die Liquidationen im 1. Weltkrieg etwa nicht mehr so eng, und sie hatten Otto von Habsburg zuletzt wieder ganz unverkrampft als „Kaiserliche Hoheit“ angesprochen. Und sein persönlicher Anteil am Niedergang des Kommunismus, sagt der Tschech, kann gar nicht hoch genug bewertet werden.

14:36 Die Ehrengäste treffen ein. Ex-Kanzler Schüssel beim kurzen Gebet hatte ich erkannt. Unser Bürgermeister Häupl schaute bedrückt drein. Den Adelsexperten des ORF kann ich nur Bewunderung zollen - wie sie die alle auseinander halten können! Für mich schauen diese Adeligen alle gleich aus. Die Fürstenhäuser sind heute vollzählig versammelt. Das lässt sich von diesen unverbesserlichen Adabeis heut halt keiner entgehen.

14:50 Wenn der Bundespräsident den Angehörigen kondoliert, dann ist es fast wie am österreichischen Nationalfeiertag, nur umgekehrt, indem er sich heute auch mal selber anstellen muss, bis er dann dran kommt, die Hände zu schütteln.

14:56 Die Pummerin läutet. Danach kommt sicher dann der Donauwalzer.

14:58 Das Requiem beginnt. Schöne Musik. Mir ist heiß. Danach beginnt eine abergläubische Zeremonie. Ich habe jetzt aber für heute genug gesehen und werde jetzt lieber baden gehen.

05. August 2011

Kein Gestaltungswille

Im sog. „Einzerkastl“ auf der Titelseite des heutigen Standard wirft Hans Rauscher ein, was ihm zur beinah schon permanent gewordenen Wirtschaftskrise auch noch aufgefallen ist.

Nicht er selbst - da ist seine Bescheidenheit vor -, sondern die Deutschen würden ihrer Kanzlerin Merkel Wankelmut in den Zeiten der Krise vorwerfen, und die Franzosen ihrem Sarkozy Egomanie. Wie sähe das wohl aus, macht sich Hans Rauscher dann weiterhin Gedanken, wenn statt derer ein Helmut Schmidt und ein Giscard d'Estaing noch am Ruder wären. Alle viere, die heutigen wie die damaligen, seien sie glühende Europäer (gewesen). Auf dieser Ebene, schreibt Rauscher, würde sich wohl kaum etwas ändern. Und vielleicht hätten aber auch diese großen alten Männer in der heutigen Situation nicht den Großen Wurf landen können, sondern einfach irgendwie weitergewurschtelt. Vielleicht sei dieses Weiterwurschteln, fällt ihn da eine Ahnung an, tatsächlich die einzige Möglichkeit und das Gebot der Stunde.

Aber ein Paradigmenwechsel werde heute gar nicht mehr gesucht, wird Rauscher dann trotzdem wieder so vehement, wie wir ihn kennen. Bei allen diesen heutigen Politikern, zieht er ein bitteres Fazit, sehe er „keinen Gestaltungswillen“.

Das ist nun gerade das, was es zu allerletzt braucht: Ein Gestaltungswillen, wie er sich beim Vollschreiben solcher Einzerkastln austobt, von Leuten, die weiter jeden Tag brav in die Arbeit gehen, ihre Miete zahlen, und ganz so wie ich und wie alle sonstigen Menschen auf der Welt mit jeder Faser ihres verdammten Ichs ins große schlechte Ganze eingewoben sind, aber ihrem dumpfen Unbehagen darüber Ausdruck geben, indem sie mit spitzem Finger auf Einzelne zeigen, und sie beschuldigen, dass ihr Streben nach einem Paradigmenwechsel völlig unzureichend sei, oder dass es ihnen am Gestaltungswillen mangeln würde und ähnliches mehr. Wenn das große Problem auf der Welt aus der Unfähigkeit oder der Gier oder was auch immer Einzelner resultieren würde, wäre es schon längst gelöst. Dieses ewige Personalisieren des Problems lenkt davon ab, sich mit der Kompliziertheit der Materie auseinanderzusetzen, und geht deshalb haargenau in die falsche Richtung.

Und ansonsten ist tatsächlich - es ist traurig aber wahr! - bis auf Weiteres ein Weiterwurschteln angesagt. Selbst eine Frau Merkel, die doch die profunde Schulbildung in der DDR genossen hat und bestimmt auch den 3. Band von Marx' „Kapital“ hat lesen müssen, in dem es um die Internationalisierung des Kapitals und um die Finanzmärkte geht, weiß sich keinen anderen Rat. Ich ebenfalls nicht. Aber ein kleiner Fortschritt wäre es vielleicht, wenn auch Herr Rauscher die drei Bände erst einmal lesen würde, bevor er sich wieder in die Debatte um diese schwierigen Probleme mit der Weltwirtschaft einschaltet. Er kann ja bis dahin auch mit zum Beispiel kleinen humorigen Sprachglossen in seinen Einzerkastln irgendwie weiterwurschteln und seinem unbezähmbaren Gestaltungswillen gewiss auch auf andere Art Genüge tun.

08. August 2011

Eine Begegnung mit Roman Opalka

Roman Opalka ist tot. Ein Auszug aus meinem „Philosoph auf Reisen“ beschreibt die persönliche Begegnung mit seinem streng konzipierten und aufs äußerste konsequent verfolgten Lebenswerk.
Bremen, Februar 2004, Neues Museum Weserburg:

… Beim Eintreten in den ersten, nicht sehr großen Saal ist ein leises Gemurmel zu vernehmen, das vom Band kommt. Eine angenehme, männliche Stimme flüstert etwas, was mir zunächst noch unverständlich bleibt. Ich sehe mich um. Eine Vitrine, verschiedene Bilder an den Wänden. Ein unspektakuläres, wenn nicht gar spröde daherkommendes Ensemble. Ich lausche genauer hin auf die Worte vom Band. Das könnte Polnisch sein. Es könnten vielleicht polnische Zahlen sein. Mir schwant da etwas. Ist das vielleicht...?

Ich wende mich den Bildern zu. Zuerst fallen mehrere großformatige, frontal aufgenommene Schwarzweißportraits auf, alle desselben Mannes, im immer gleichen weißen Hemd, mit immer demselben Goldkettchen um den Hals. Ein kleiner Schock: zwischen den Aufnahmen ist er um Jahre gealtert.

Jedem der Portraits ist eine bemalte Leinwand zugeordnet. Aus der Ferne sehen sie aus wie monochrom-graue Rechtecke, in unterschiedlichen Tönungen von einem dunklen bis zu einem sehr hellen, fast schon weißen Grau. Ich trete näher, und da bestätigt es sich: von diesem Werk habe ich in der Tat schon gehört. Denn beim näheren Hinsehen entpuppen sich die scheinbar grauen Flächen der gemalten Bilder als mit dünnem Pinsel aufgetragene fortlaufende Zahlen, die in engen Zeilen die Fläche dieser Leinwände komplett ausfüllen. Es handelt sich tatsächlich um Bestandteile aus Roman Opalkas Lebenswerk „1965/1 – ∞“.

Seit 1965 verbringt der Künstler sein Leben damit, dass er Leinwände einheitlicher Größe mit den Zahlen von 1 bis unendlich beschriftet. Immer, wenn er mit dem Beschriften einer neuen Leinwand beginnt, mischt er eine Spur mehr von Weiß in das Grau der Farbe. Auf diese Weise nähert er sich, wie er sich auf der Zahlenebene auf die Zahl ∞ zubewegt, auf der visuellen Ebene noch dem alten paradoxen Traum in der Malerei an vom „weißen Bild“.

Während er so malt – oder schreibt? –, spricht er die Zahlen laut mit und nimmt dies auf Tonband auf. Dies ist das Gemurmel, welches im Raum zu hören ist. In einer Vitrine gibt es Schallplatten, die davon zu Anfang der Siebziger Jahre eine Zeitlang gepresst wurden, in Vinyl. Daneben liegen spätere Aufnahmen, in Form von Musikcassetten. Wiederum spätere als CDs. Die Aufnahmetechniken haben sich geändert, Opalkas Vorgehensweise ist die gleiche geblieben.

Am Ende eines jeden Arbeitstags macht er die fotografischen Selbstportraits, wie sie neben den Leinwänden zu sehen sind, und dokumentiert so auch auf dieser Ebene, wie er sich im Zuge der Arbeit an dem Werk verändert hat. Opalkas Schaffen ist also ein einziges großes fest konzipiertes Lebenswerk, wenn auch vielleicht nicht exakt zum Thema „Zeit“, so doch jedenfalls zu den Themen „Unendlichkeit“, „Wandel“ und vor allem auch „Altern“.

Dieser äußersten Konsequenz Opalkas muss ich jetzt, bei der persönlichen Begegnung mit dem Werk, große Bewunderung zollen. Es hat dies aber auch eine gehörige Portion mönchischer Strenge: eine und genau nur diese eine künstlerische Idee das ganze Leben hindurch umsetzen zu wollen! Das ist schon wirklich radikal! Das ist schon wirklich starker Tobak!

Ich weiß es nicht, ob er auch heute noch Tag für Tag an seinem Werk sitzt. Er müsste dann wohl schon beim Malen von nahezu weißen Zahlen auf weißem Grund angekommen sein. Aber an dem gewiss reiflich erwogenen und seit 1965 verfolgten Ziel wäre er damit noch lange nicht: das Werk weiter zu führen bis zur Zahl ∞ …

Von ein paar Wochen Urlaub im Jahr und einigen beruflichen Reisen abgesehen hatte er es bis zuletzt versucht.

11. August 2011

Riots all over England

Seit Tagen Ausschreitungen in ganz England, und man fragt sich: Wann tritt die Queen endlich ab?

22. August 2011

Die Schere

Die Schere geht immer weiter auf zwischen Arm und Reich?

Das ist zwar unangenehm, besonders für uns Arme, aber andererseits: Eine Schere, die nicht mehr aufgehen würde, könnte man sich auch gleich komplett schenken.

12. September 2011

Lieblingsmeldung des Tages

Ich fand sie unter der Rubrik „Köpfe“ im heutigen Kurier und hier ist sie - zum Nachdenken und Genießen - Wort für Wort und in voller Länge:

LIZ MOHN (70) Die Frau an der Spitze des größten europäischen Medienkonzerns Bertelsmann blickt in ihrem Buch „Schlüsselmomente“ auf ihre erstaunliche Karriere zurück. Sie durfte nie eine weiterführende Schule besuchen und war Telefonistin als sich der 20 Jahre ältere Bertelsmann-Chef Reinhard Mohn in sie verliebte. Doch sie hat ihren ganzes Leben lang gelernt, es zu schaffen.

Punkt. Aus.

Kurz, knackig, informativ, dazu noch dieser subtil verabreichte Schuss fernöstlicher Weisheit - so muss eine Meldung sein!

Ich werde mir Mohns Memoiren auf jeden Fall zulegen, denn von ihren ganzes Leben lang lernen heißt, es schaffen lernen.

01. Oktober 2011

Nur ein Gerücht

Angeblich geht in gewissen Kreisen das Gerücht um, Trachten seien jetzt wieder in Mode.

Das Gerücht entbehrt jeder Grundlage. Nur Wald- und Wiesenmenschen, die auf Feldern oder Almen arbeiten und noch kaum einen Zugang zu Kultur und Bildung genießen konnten, tragen im europäischen Raum heute noch Tracht. In modernen und weltoffenen Städten wie Wien werden Leute, die immer noch in Dirndln und Lederhosen herumlaufen, als dumme Bauerntrampel belächelt, wenn sie Glück haben, öfter aber gleich ganz unverhohlen verachtet.

Trotzdem verirren sich immer wieder mal Trachtenträger auch in unsere Stadt. Sie werden dann oft von Touristen abfotografiert, die nicht die Zeit haben, auch die ländlichen Regionen Österreichs zu besuchen, wo es das skurrile Fotomotiv noch häufiger aufzufinden gibt, auch wenn Trachten auch am Land heute im Grunde bloß noch von Gastronomieangestellten, von Volksmusikanten und rechtsextremen Politikern bei der Arbeit getragen werden.

05. Oktober 2011

Servus, neuer Teamchef!

Mit der fetten Schlagzeile „Marcel wer?“ wird der neue Teamchef Marcel Koller heute vom Wiener Gratis-U-Bahn-Blatt heute willkommen geheißen.

Das ist nicht so brüsk unhöflich, wie es auf den ersten Blick vielleicht aussieht. Das Blatt will damit nur in seiner Art den Verantwortlichen klar machen, dass zuerst einmal der Österreichische Fußballbund oder eine verwandte Institution eine Serie von Anzeigen in heute wird schalten müssen. Und danach erst wird dann über Koller, auch wohlwollend, berichtet. Ist ja klar: Von irgendwas muss so ein Gratisblatt schließlich leben.

31. Oktober 2011

Das hätt's nicht braucht

Das hätt's nicht braucht, dass sich jetzt auch Roland Emmerich, der gewöhnlichste Katastrophenfilmregisseur aller Zeiten, Shakespeare einmal angenommen hat. Vermutlich werden wir in Nebenhandlungen jede Menge normale Familienväter kennen lernen, die im Laufe des Films Gelegenheit bekommen, ihren Mut unter Beweis zu stellen, bis zu Ende hin viel fette Pyro- und Computertechnik zum Einsatz kommt und der Hauptheld, der aber überraschenderweise gar nicht Shakespeare sein wird, die Welt halb zu Schrott verwandelt, um sie halb zu retten.

10. November 2011

Helmpflicht

Wenn in Deutschland die Helmpflicht für Radfahrer kommen sollte, dann in erster Linie deshalb, damit einige in der Helmbranche Tätige ein schönes Wirtschaftswunder verzeichnen können.

Ich bin aber auch gegen die Helmpflicht für radfahrende Kinder. Die trägt nur dazu bei, dass die Autofahrer auch weiterhin meinen, bedenkenlos rasen zu können.

14. November 2011

Eine Bildungslücke

Von Karl Kraus habe ich praktisch schon alles gelesen. Während langer Jahre hatte ich in meinen Wartezeiten als Taxifahrer stets einen Band mit Fackel-Heften zur Hand. Viel über Wien habe ich da erfahren, noch bevor ich es selbst kennenlernte, über die Wiener Geschichte, über die Wiener und die österreichische Mentalität. Mehr noch habe ich in diesen Bänden über Sprache gelernt, mir auch selbst daraus eine Sprachlehre für den Eigenbedarf kompiliert.

So ziemlich alles, was es sonst noch gibt von Karl Kraus, habe ich irgendwann ebenfalls gelesen: seine Essays und Textzusammenstellungen wie „Sittlichkeit und Kriminalität“, die Aphorismensammlungen, seine Briefe … Nur ein einziges seiner Werke, und zwar ausgerechnet das bekannteste, konnte ich mir nie antun: „Die letzten Tage der Menschheit“.

Ein Theaterstück über den 1. Weltkrieg. Es ist eines jener Kunstwerke, bei denen das monströse Thema eine Form erheischt hat, die alle herkömmlichen Formen sprengt. Als Theaterstück ist es definitiv unaufführbar. In der Buchausgabe (ohne Anhang) knapp 700 Seiten stark, ist es laut Kraus' Vorwort bekanntlich „einem Marstheater zugedacht“ und würde „nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten.“

Ich kannte die Auszüge, die Karl Kraus in der Fackel abgedruckt hatte. Ich hatte Ausschnitte im Fernsehen und auf Video gesehen, wohl auch die eine und die andere komplette Aufführung, bei der sich wagemutige Theatermenschen trotzdem an das Ding herangetraut und ihre Auswahl daraus getroffen hatten, notgedrungen, auf dass das Werk auch einem irdischen Publikum präsentiert werden konnte. Nicht zuletzt hatte ich auch Qualtinger aus den „ Letzten Tagen der Menschheit“ vortragen gesehen. Aber mir das Werk auch einmal komplett zu geben - dazu hatte ich mich nie aufraffen können. (Obwohl ich solchen Opi Magni gegenüber sonst nicht abgeneigt bin und sie mir von Zeit zu Zeit sogar sehr gerne gebe.)

Jetzt habe ich die Bildungslücke aber doch noch schließen können. Und das kam so: Vor ein paar Wochen hatte ich in der Wiener Stadtbibliothek die Radiofassung des ORF entdeckt, das komplette Werk, ungekürzt, radiogerecht, aber nicht zu üppig mit ein paar Atmosphären und Hörspielelementen versehen. Ausgestrahlt wurde sie erstmals 1974, vermutlich in 23 Folgen, denn im Umfang von 23 CDs lag sie dort für mich bereit, und in 23 Etappen, mehr oder weniger, habe ich mir das Werk jetzt also doch noch komplett vortragen lassen.

Nur in dieser Form ging das, denke ich mir. Ein Lob dafür an den ORF. Aber mein Widerwillen gegenüber dem Werk ist dadurch nicht geringer geworden, dass ich es jetzt kenne. Nein, meine zuvor nur vage Ansicht, dass es sich dabei um Kraus' schwächstes Werk handeln dürfte, erscheint mir jetzt wohl begründet.

„Die letzten Tage der Menschheit“ hätten eine beeindruckende Dokumentensammlung über den 1. Weltkrieg und ein grandioses Stück Dokumentartheater sein können, weil sie ja großenteils aus wörtlichen Zitaten bestehen, aus Pressemeldungen, aus Plakatanschlägen, aus öffentlichen Reden und Verlautbarungen, aus Soldatentagebüchern, aus Feldpostbriefen, aus aufgeschnappten Äußerungen auch des Mannes und der Frau auf der Straße. Zusätzlich gibt es die Szenen zwischen dem „Abonnenten“ und dem „Zweifler“, in denen dieser jenem erklärt, was aus den Propagandameldungen der Presse heraus zu lesen wäre und wie sie ebenfalls interpretiert werden könnten. Diese Dialoge zwischen dem Abonnenten und dem Zweifler gehen über die Form der reinen Dokumentensammlung und eines Theaterstücks nur aus Zitaten schon hinaus, aber selbstredend ist das auch immer die gewohnt geniale Kraussche Textanalyse und Sprachkritik, was der Zweifler da von sich gibt, und so hätte das die verbindende Ebene in dem Drama abgeben können. Aber dazu kommt dann eben auch noch Karl Kraus selbst in Form seines Alter Ego, als „Nörgler“ zu Wort, und erklärt einem sogenannten „Optimisten“ in sage und schreibe 24 Szenen, wie katastrophal und barbarisch dies doch alles ist, und einmal dauert solch ein Dialog geschlagene 50 Minuten, das heißt ganze 34 Buchseiten lang! Der „Optimist“ ist dabei immer nur ein reiner Stichwortgeber für den „Nörgler“, worauf ihm dieser dann immer seine grundnaiven Ansichten korrigiert. Damit nicht genug, ist dieser absolut untheatralische Kommentator noch zusätzlich in einer Szene „im Vortragssaal“ und gegen Ende des 5. Akts mit einem resignativen Fazit zu hören, einem Monolog allein zu Hause, an seinem Schreibtisch.

Karl Kraus' Vortragskunst mitbedacht - die auf den alten Aufnahmen heute aber auch schon zuweilen veraltet und unangenehm pathetisch wirkt - sind „die letzten Tage der Menschheit“ also so etwas wie seine Stoffsammlung aus Dokumenten zum 1. Weltkrieg und seinen Kommentaren dazu. Aber ein gutes Theaterstück ist das, auch für ein Marstheater, beim besten Willen nicht. Die Dokumente sind oft bewegend. Sie sind oft schockierend. Sie machen die allgemeine Verrohung spürbar zu den Zeiten dieser großen Menschheitskatastrophe und die abgrundtiefe Verzweiflung derer, die sich noch einen Rest an Menschlichkeit bewahrt hatten. Aber diese Figur mit den weitaus meisten Auftritten im Stück, dieser penetrant belehrende Nörgler nervt.

07. Dezember 2011

Ich habe gelesen ...

… nichts von Belang in den letzten Wochen, wie es bei mir eben immer so ist, wenn ich ein eigenes Ding am Fertigschreiben bin. Ich nehme mir dann allenfalls von Zeit zu Zeit, um auszuspannen und abzuschalten, ein Buch zur Hand, das möglichst nichts mit dem eigenen Schaffen zu tun haben soll, am besten eines mit vielen kurzen und kleinen Stückeln, das keine Ausdauer erfordert und jederzeit weggelegt werden kann, ohne den Überblick zu verlieren. Konkret fiel meine Wahl zum Beispiel auf den Band „50 Klassiker: Skulpturen“ aus der Reihe „Gerstenberg visuell“, ein hübsch gemachtes Buch, das nun wirklich herzlich wenig mit meiner eigenen Textproduktion zu tun hatte und mir ein paar Tage lang in reich bebilderten Häppchen von drei, vier Seiten zwischendurch Entspannung und Ablenkung verschaffte und mir dabei vor allem auch meine beträchtlichen Bildungslücken in diesem Bereich der bildenden Kunst verringert hat. Die Machart des Buches, der Informationsgehalt, der Mut auch zur subjektiven Wertung der besprochenen Skulpturen hatte mich wirklich überzeugt, und so griff ich danach noch zu einem anderen Band aus derselben Reihe, der dann aber schon mehr mit meinem eigenen Schaffen zu tun hatte. „50 Klassiker: Romane des 20. Jahrhunderts“ mir in dieser Art zu Gemüte zu führen, beinhaltete schon ein gewisses Risiko, mich noch beeinflussen zu lassen in der Fertigstellung meines eigenen Werkes, dem ich normalerweise also aus dem Weg gehe. Aber einen Roman schrieb ich ja nun nicht, und so schien mir das Risiko auch wiederum nicht allzu groß zu sein.

Die ersten drei besprochenen Romane in dem Band - Conrads „Lord Jim“, Thomas Manns „Buddenbrooks“ und Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, hatten etwas gemeinsam, was in gewissen Romantheorien eher als Schwachpunkt angesehen wird und woran nach Ansicht so einiger Kritiker auch meine eigene Literatur krankt. Und da dachte ich mir: Na, wenn das so weiter geht! Da bin ich jetzt aber gespannt, wieviele dieser 50 klassischen Romane des 20. Jahrhunderts wohl diesen Makel haben werden? Ich habe am Ende durchgezählt.

Ganz so schlimm ist es dann aber doch nicht geworden. Denn außer den erwähnten waren nur noch Woolfs „Miss Dalloway“, Fitzgeralds „Der große Gatsby“, Remarques „Im Westen nichts Neues“, Faulkners „Licht im August“, Millers „Im Wendekreis des Krebses“, Klaus Manns „Mephisto“, Mitchells „Vom Winde verweht“, Hemingways „Wem die Stunde schlägt“, Kerouacs „Unterwegs“, Lampedusas „Der Leopard“, Grass' „Blechtrommel“, Updikes „Hasenherz“, Lessings „Goldenes Notizbuch“, Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, Márquez' „Hundert Jahre Einsamkeit“, Beckers „Jakob der Lügner“ und Couplands „Generation X“, insgesamt also 20 der 50 Romanklassiker mit dem Makel behaftet, der auch meinen eigenen Texten fast immer anhaftet und den ich in der Gattung des Romans nur als gelegentliche und ausnahmsweise Erscheinung erwartet hätte: Alle diese 20 Romane sind im wesentlichen autobiografisch grundiert und fundiert. Immerhin 40 Prozent der besprochenen 50 Autoren von Romanklassikern setzten also in ihren Werken nicht an zum freien Flug ins Reich der Phantasie, sondern sie beschrieben im Grunde, mal besser, dann wieder nur kaum getarnt, sich selbst und ihr Leben. Und - legt man jene gewissen Romantheorien zu Grunde - dann haben also nur die anderen 30 fiktiv, das heißt wirkliche Romane geschrieben. Der „Ulysses“ zum Beispiel ist zwar ebenfalls eine grandiose One-Man-Show von James Joyce, aber ganz unzweifelhaft ein wirklicher Roman. Was Thomas Pynchons Werke angeht, so lässt sich ihr autobiografischer Gehalt bekanntlich schwer quantifizieren. Aber ich sollte da jetzt nicht weiter allzu genau nachfragen. Immerhin 60 Prozent der Romanklassiker aus diesem Kanon pflegen sie ja doch, während sie meiner Literatur meist vollkommen abgeht: die frei flottierende Phantasie.

10. Dezember 2011

Der fünfte Band

Nachtragen möchte ich noch: Ich habe nun auch gelesen Karlheinz Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 5: Das 9. und 10. Jahrhundert“. Schön an solch riesigen Projekten, die vom Autor quasi ein Leben lang verfolgt werden, ist es ja auch, wenn sie fast zwangsläufig im Lauf ihrer Entstehung auch eine Entwicklung durchmachen; wenn sie zum Beispiel ein Feedback bekommen auf die ersten Bände, schon während die letzten noch gar nicht abgeschlossen sind, und darauf noch während der Entstehung reagieren können.

So enthält dieser fünfte Band ein 22-seitiges Editorial, in dem es um ein dreitägiges Symposium geht, mit dem 1992 kirchennahe Kreise auf die ersten drei Bände von Deschners Werk reagiert hatten. Aussitzen erschien diesen Kreisen um den Professor für Historische Theologie an der Universität-Gesamthochschule Siegen offenbar als nicht mehr angemessene Reaktion auf Deschners Arbeit, und so hatte er u. a. zwei Dominikaner, einen Franziskaner und einen Hochschullehrer für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie zum Symposium nach Schwerte geladen, mit dem Titel: „Kriminalisierung des Christentums? Karlheinz Deschners Kirchengeschichte auf dem Prüfstand“. Deschner war ebenfalls eingeladen, schreibt er, aber wollte sich der kirchennahen Übermacht aus ordentlichen, außerordentlichen, außerplanmäßigen und emeritierten Profs nicht leibhaftig aussetzen und hatte beschlossen, sie lieber alleine mal machen zu lassen. Sämtliche Referate des Symposiums erschienen dann 1993 als ein Buch im Herder-Verlag, mit dem stattlichen Umfang von 320 Seiten und zum stattlichen Preis von 58 DM. In manchen der Referate in dem Buch, schreibt Deschner, reihe sich ein gefälschtes Zitat an das andere, um Deschners angebliche Unseriosität zu belegen, andere Referenten seien relativ fairer mit ihm umgegangen. Pars pro toto gehe er nun in dem Editorial auf den Vortrag von Maria R.-Alföldi detailliert ein, die sich ungefähr in der Mitte zwischen den beiden Polen bewegt hätte; und weil, auf alle Beiträge in dem Buch einzugehen, aus Platzgründen natürlich nicht möglich gewesen wäre, ohne dieser Auseinandersetzung einen ganzen eigenen Band von ähnlicher Stärke wie das Buch aus dem Herder-Verlag zu widmen.

Diese Frau R.-Alföldi „findet es schwer“, leitet sie ihr Referat „Kaiser Konstantin: ein Großer der Geschichte?“ ein, „auch nur annähernd den Inhalt wiederzugeben“ von Deschners Thesen. Sie bemängelt seine „unakademische Direktheit der Darstellung“, nennt sie „populär“, „populistisch“ oder auch „von starker Tendenziösität geprägt“, vorerst noch ohne jeden Versuch, den Vorwurf konkret zu belegen. Dann hält sie ihm zum Beispiel vor, dass er Soldaten „Schlächter“ nennt, worauf er ihr zugibt, dass das in der etablierten Geschichtswissenschaft sicher nicht üblich wäre, wohingegen, was die Heuchelei gut aufzeige, dort von „schlachterfahren, Schlachtenlenker, Schlachtenruhm und Schlachtentod“ zu sprechen durchaus ja erlaubt und wohlgelitten sei.

Mit Sätzen wie „Man liest, daß Konstantin seine Abstammung gefälscht hat“ oder „Die ersten Regierungsjahre … sind nichts weiter als schreckliche Kriege gegen armselige Germanen, die dann, gefangengenommen, erbarmungslos abgeschlachtet werden“ suggeriert R.-Alföldi weiterhin, dass Deschner damit Unwahrheiten oder Übertreibungen verbreiten würde, ohne dass sie Deschners Fakten auch wirklich in Abrede stellen könnte. Weiterhin fälscht sie dann aber auch Zitate von Deschner oder stellt sie in falsche Zusammenhänge, um ihm Ungenauigkeiten oder gar Fälschungen vorwerfen zu können.

„Tendenziös“ nennt sie zum Beispiel seinen Satz: „Die Größe des Wütens ist es, die das Verbrechen straflos macht.“ Das ist aber nicht Deschners Satz, sondern er kommt vom hl. Cyprian und wird von Deschner als einer von Cyprian zitiert. Sie behauptet, Deschner sehe die partielle Verbesserung durch Konstantins Gesetze nicht. Deschner hat diese partielle Verbesserung gegenüber dem vorherigen Zustand aber im Gegenteil ausdrücklich erwähnt. Sie behauptet, er sehe Konstantins Zurückhaltung gegen die Heiden nicht. Deschner hat diese Zurückhaltung ebenfalls ausdrücklich erwähnt.

Sie hält ihm die falsche Schreibweise von Namen vor, um ihn als Laien dastehen zu lassen. In Wirklichkeit sind unterschiedliche Schreibweisen dieser betreffenden Namen absolut üblich.

Und einen wirklichen sachlichen Fehler findet sie dann aber doch noch bei Deschner, den er einräumen muss: Konstantins „Nimbus“ auf den Münzen kann nicht umstandslos mit einem „Heiligenschein“ gleichgesetzt werden. Da gibt es für den Fachmann gewisse geringfügige Unterschiede.

Soviel also zu diesem Editorial, das ganz schön aufzeigt, wie die etablierte kirchennahe Historikerzunft reagierte und wie sie es unternommen hat, Deschners bestens belegte Fakten - dieser 5. Band hat wieder einen stattlichen Anmerkungsapparat von 89 kleingedruckten Seiten - als unseriös, tendenziös, übertrieben, wenn nicht gar faktisch falsch erscheinen zu lassen.

Zu den Verbrechen selber in diesem 5. Band der „Kriminalgeschichte des Christentums“: Am beliebtesten scheint bei den Päpsten und beim christlichen Adel und Kaisertum im 9. und 10. Jahrhundert der Meineid gewesen zu sein, in Form gebrochener Treueschwüre. Die Päpste schwuren ständig einem weltlichen Herrscher die Treue und ebenso seinem Rivalen und seinen Todfeinden und wechselten im Bestreben, dass niemand groß werden sollte außer die heilige römische Kirche, ständig pragmatisch-opportunistisch die Fronten. Weiters in den Best of Crimes: Die pseudoisidorischen Dekretalen als folgenschwerste Fälschungen der Weltgeschichte, angefertigt, um angeblich uralte Vorrechte der Päpste vor den Kaisern zu belegen; Otto I., gutchristlicher Herrscher, genannt natürlich „der Große“ ließ einmal 700 slawische Kriegsgefangene köpfen; und der Papst Sergius III. ging in die Geschichte ein als der „Mörder zweier Päpste“.

Eher aus der Abteilung der Kuriositäten: Die sogenannte „Leichensynode“, bei der einem Papst, der schon zu stinken anfing, weil er nämlich schon tot war, von seinem Nachfolger und Konkurrenten aus Lebzeiten noch ein Schauprozess gemacht wurde. Die synodalen Beschlüsse waren danach, je nach Kräfteverhältnis, mehrmals annulliert und wieder in Kraft gesetzt worden. Ja, und außerdem wurde zu jener Zeit auch die Erbfolge unter Päpsten - hört, hört! - etabliert. Anders gesagt: Die Liebe, die körperliche Liebe zog machtvoll ein in den Vatikan. Die Zeit des Nepotismus, der Günstlingswirtschaft also, heißt diese Phase, von heute aus betrachtet. Selbst aus heutiger offizieller Kirchensicht war da für ein paar Päpste lang tatsächlich nicht alles ganz koscher im Vatikan.

13. Dezember 2011

Der Nachhaltigkeitssammler

Seit bald 25 Jahren gehe ich einem ausgefallenen, anspruchsvollen und manchmal sehr anstrengendem Hobby nach: Ich sammle Nachhaltigkeit, in allen Ausprägungen, Farben und Formen, alle Bücher und Filme und Zeitungsartikel und Werbeanzeigen und alle öffentlichen Äußerungen, die man sich überhaupt vorstellen kann, wenn nur Nachhaltigkeit darin vorkommt. Die Anlage und der Ausbau meiner Sammlung geschieht natürlich selbst ebenfalls nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit. (Sonst wäre da ja ein Widerspruch.) Das heißt zum Beispiel, dass ich aus der öffentlichen Sphäre niemals mehr von diesen Statements entnehmen und sie in meine Nachhaltigkeitssammlung aufnehmen werde, als sie im selben Zeitraum auch wieder nachzuproduzieren in der Lage ist. (Prinzip der Erneuerbarkeit.)

Alles begann vor beinahe genau 25 Jahren mit dem sogenannten „Brundtland-Report“, der die Kriterien definiert hatte für eine „nachhaltige Entwicklung“ und damit den Nachhaltigkeitsdiskurs erst so richtig anstieß und auch nachhaltig prägte. Seither wächst meine Sammlung zum Thema Nachhaltigkeit beständig und sie wächst und wächst, und ich bin auch sehr zuversichtlich, dass sie auch in Zukunft weiterhin wachsen wird. Eine kleine Gefahr fürs nachhaltige Wachstum meiner Sammlung könnte höchstens noch darin bestehen, dass die Nachhaltigkeit als Begriff eines Tages vielleicht auch wieder aus der Mode kommt, was Gott aber bitte, auch im Sinne unserer Umwelt, nachhaltig verhüten möge.

Als verantwortungsbewusster Nachhaltigkeitssammler versuche ich natürlich auch selbst meinen Beitrag dazu zu leisten, dass es nicht soweit kommt. Eine große Gefahr, dass das Wort irgendwann niemand mehr hören kann, liegt ja in Zeiten wie diesen, in denen kaum noch eine kommerzielle Werbeanzeige auf seine Verwendung verzichtet, in der Beliebigkeit, mit der es verwendet wird. Und so sammle ich als verantwortungsbewusster Nachhaltigkeitssammler, dem auch an einem nachhaltigen Wachstum seiner Sammlung gelegen ist, natürlich nicht alle Zeitungsausschnitte, in denen Nachhaltigkeit bloß als Begriff irgendwie vorkommt, nein, sondern nur diejenigen Statements zur Nachhaltigkeit sammle ich, die dem Gedanken der Nachhaltigkeit auch tatsächlich, und zwar nachhaltig, weiterhelfen.

Darf ich Ihnen vielleicht ein paar Glanzstücke aus meiner Sammlung zeigen? Hier zum Beispiel haben wir die berühmte doppelseitige Anzeige der Rewe-Group mit der Überschrift „Die vier Säulen der Nachhaltigkeit“, welche in diesem Konzern nun Gesetz sind und im Text im einzelnen erläutert werden. Die ersten zwei Säulen kommen noch recht konventionell daher: „Grüne Produkte“ sind die erste Säule, die gehandelten Produkte sollten in der näheren Umgebung produziert worden sein, wenn es irgendwie geht, usw.; „Energie, Klima und Umwelt“ ist die zweite, wobei es vor allem darum geht, dass nach Ladenschluss in der Rewe die Innenbeleuchtung abgedreht wird, was gut ist für die CO2-Bilanz und Stromkosten spart … Geschenkt, diese ersten zwei Säulen! Aber die letzten zwei sind dann tatsächlich doch sehr innovativ und brachten den Nachhaltigkeitsdiskurs nachhaltig weiter. Die „3. Säule der Nachhaltigkeit“ sind bei der Rewe die „Kunden“. Dass ein Konzern seinen Kundenkreis nachhaltig betreuen und zufrieden machen möchte und nicht etwa darauf aus ist, ihn, unter Einsatz von Werbemitteln vielleicht und auf Kosten der Konkurrenz, möglichst noch zu vergrößern, was ja doch nur Gegenwerbung heraufbeschwören müsste, die die Nachhaltigkeit des eigenen Kundenstamms früher oder später auch wieder in Frage stellen würde - das hatten wir von solchen Konzernen bis dahin noch nicht gehört. Und die vierte Säule der Nachhaltigkeit bei der Rewe-Group sind dann noch die „MitarbeiterInnen“ - die in diesem Konzern humanerweise jetzt ebenfalls nachhaltig behandelt, also nicht schneller vernutzt werden, als sie auch wieder nachzuwachsen in der Lage sind. (Prinzip der Erneuerbarkeit.)

Oder sehen Sie sich hier diese Annonce an von BRP, einem Hersteller von motorisierten Powersportgeräten, Außenbordmotoren und ähnlichem, der selbstbewusst bekannt gibt, dass er jetzt ebenfalls den Prinzipien der Nachhaltigkeit folgt. Das kann nur bedeuten, dass man beim Kauf der Produkte dieser Firma eine Verordnung mitgeliefert bekommt, nach der man sie höchstens einmal im Jahr in Betrieb nehmen darf, weil ja das zu ihrer Ingangsetzung benötigte Rohöl nur so verdammt langsam auch wieder nachwächst. (Prinzip der Erneuerbarkeit.)

Erstaunen wird es Sie vielleicht, dass der Nachhaltigkeitsdiskurs zwar durch den Brundtland-Report von 1987 und die UN-Entwicklungskonferenz in Rio 1992 in Gang gesetzt wurde, dass aber diese beiden Dokumente sich trotzdem nicht nachhaltig in meiner Sammlung haben halten können. Denn die „nachhaltige Entwicklung“, von der in ihnen im wesentlichen die Rede ist, konnte den Kriterien der Nachhaltigkeit leider nicht nachhaltig entsprechen. Das lässt sich leicht veranschaulichen: Wenn jetzt sämtliche Entwicklungs- und Schwellenländer durch eine sogenannte nachhaltige Entwicklung auf unser Wohlstandsniveau angehoben würden, könnten sie dann ja zum Beispiel als Gleiche unter Gleichen mit uns am Weltmarkt konkurrieren, was ganz zwangsläufig die Chancen der kommenden Generationen in Europa, in Japan und den USA katastrophal schmälern müsste. Nachhaltige Entwicklung, folgt daraus, ist ebenso ein Widerspruch in sich und ein Ding der Unmöglichkeit wie zum Beispiel auch ein nachhaltiges Wachstum, das auch immer entweder zu Lasten anderer geht oder schnell an sonstige Grenzen stoßen wird. Als verantwortungsbewusster Nachhaltigkeitssammler habe ich alle nachhaltige Entwicklung und sämtliches nachhaltiges Wachstum schon lange aus meiner Sammlung exkludiert.

Im Einzelfall ist es ja manchmal wirklich schwer zu entscheiden, ob etwas nachhaltig ist oder nicht. Manchmal ziehe ich dann meine Referenzmaterialien zu Rate. Duftet es verführerisch und leuchtet es rot wie ein frisch gekaufter Strauß roter Rosen? Dann ist es ganz sicher nicht nachhaltig. Oder schaut es eher aus wie ein Brückenpfeiler aus Beton? Beton - da sind sich alle einig - ist schon sehr nachhaltig. Lächelt es uns an wie ein Schneemann in den ersten Strahlen der Frühlingssonne? Dann ist es ganz sicher nicht nachhaltig. Oder strahlt es uns eher an wie die Atomruine von Tschernobyl? Der GAU von Tschernobyl war in den Auswirkungen ganz ohne Zweifel nachhaltig.

Trotzdem ist das natürlich auch oft relativ und subjektiv. Cäsium 137 zum Beispiel strahlt bekanntlich nur noch halb so stark nach 30 Jahren. Für die meisten ist das noch nicht wirklich nachhaltig. Aber beim Plutonium 239 dagegen mit seiner Halbwertszeit von über 24.000 Jahren wird kaum noch jemand widersprechen: Beim Plutonium 239 kann man trotz dieses Strahlungsschwunds, den es ja immer gibt, schon von einer einigermaßen nachhaltigen Nachhaltigkeit ausgehen.

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