Elfmeterschießen (2014)


Die Trainer gehen herum, sprechen mit den Spielern, legen die Schützen fest. Die Masseure bearbeiten noch einmal deren verhärtete Wadeln. Der Schiedsrichter wirft eine Münze. Sie entscheidet, wer vorlegen darf, wer nachziehen muss. Der kleine Vorteil ist auf Brasiliens Seite. Ein wenig seltsam ist es, dass der Schiedsrichter immer frei entscheiden kann, auf welches Tor geschossen wird. Heute ist es kein sehr gewichtiger Unterschied, denn hinter beiden Toren sind die brasilianischen Fans deutlich in der Mehrheit. Aber wenn bei einem Pokalspiel die Fans der einen Mannschaft hinter dem einen Tor versammelt sind und die der anderen hinter dem anderen, macht es für den Schützen schon einen psychologischen Unterschied, ob man gegen ein gellendes Pfeifkonzert zum Elfmeter anläuft oder gegen eine relativ ruhige Anspannung, die man mit einem erfolgreichen Abschluss in eine begeisterte Jubelkulisse verwandeln kann. Dass diese Entscheidung immer ganz der Willkür des Schiedsrichters anheim gegeben ist, und nicht so ausgelost wird wie das Recht des ersten Schusses, ist schon ein bisschen seltsam. Der Schiedsrichter wird dadurch praktisch gezwungen, einer der Mannschaften einen kleinen Vorteil zu gewähren. Und auf Kleinigkeiten kommt es beim Elfmeterschießen an.

Viele Leute meinen, diese entscheidenden Kleinigkeiten seien so unwägbar, dass es sich bei einer Entscheidung im Elfmeterschießen im Endeffekt um ein reines Glücksspiel handelt. Eine eindeutige Manifestation dieses Standpunkts hatte ich einst in Gambia miterlebt. Immer, wenn es zu einem Elfmeterschießen kommt, muss ich an dieses Erlebnis zurück denken.

Banjul, 2008. Unsere Gastgeber haben uns zu einem Pokalhalbfinale im städtischen Stadion eingeladen. Nach der regulären Spielzeit, auch nach der Verlängerung steht es Unentschieden. Und was passiert jetzt? Unsere Gastgeber stehen auf, alle die Leute auf den Tribünen stehen auf. Und sie gehen! Sie gehen nach Hause! Es wird schon dunkel. Die Moskitos kommen. Irgendwie wird jetzt zwar noch im Elfmeterschießen entschieden, wer ins Finale einziehen darf. Aber es ist wie ein Losentscheid. Das Fußballspiel ist zu Ende. Es gab ein Remis. Lasst uns nach Hause gehen!

Welch krasser Unterschied zu der fiebrigen Spannung jetzt, im Stadion in Brasilien, oder auch hier im Raum! Nach dem Spiel wird bekannt werden, dass die Ärzte während des Elfmeterschießens vier Patienten mit Herzattacken im Stadion hatten behandeln müssen. Und bei einem Public Viewing unweit des Stadions ist ein brasilianischer Zuschauer an einem Herzinfarkt verstorben. So unterschiedlich kann man dem, was jetzt kommt, entgegen oder eben auch komplett davon absehen.

Es geht los. David Luiz verwandelt sicher zum 1:0 für Brasilien. Pinilla ist Chiles erster Schütze. Sein Schuss wird von Julio Cesar gehalten. Riesiger Jubel im überwiegend brasilianischen Publikum. Es sieht gut aus. Wie es scheint, geht die Heim-WM auch nach dem heutigen Tag noch weiter. - - -

Ist das nur ein Glücksspiel? Ich denke nicht. Auf der Seite des Schützen gehört viel Können dazu. Über die Torhüter auf der anderen Seite heißt es zwar immer, sie könnten im Elfmeterschießen zu Helden werden. Aber gleichwohl denke ich, dass ihre Möglichkeiten, zu der Ehre zu kommen, kaum richtig eingeschätzt werden. Sie müssen sich zum Beispiel bis zu einem gewissen Grad in die Schützen hineinversetzen. Und da gibt es unterschiedliche Typen: -

Es gibt sie, die sicheren Elfmeterschützen. Bei denen kann man als Goalie tatsächlich nichts machen. Dem psychischen Druck begegnen sie, indem sie ein paarmal tief durchatmen. Cool wählen sie sich dann ein Eck aus, rechts oder links, flach oder im Kreuzeck, und hämmern den Ball so scharf dorthin, dass der Goalie in der Tat keine Chance hat. So treffen sie in mindestens neun von zehn Fällen, und wenn sie mal nicht treffen, dann schießen sie ans Aluminium, oder äußerst knapp am Tor vorbei. Es gibt sie wahrscheinlich in jedem Team, diese sicheren Schützen. Aber in kaum einem Team gibt es gleich fünf davon. An die anderen Typen muss sich der Torwart halten.

Interessant ist zum Beispiel, dass kaum einmal die ausgewiesenen Superstars diese Elfmeterspezialisten sind! Die Stars sind zu diesem Zeitpunkt immer schon 120 Minuten auf dem Platz. Ihre Kondition wurde während der ganzen Saison, wie die aller Fußballspieler, auf die üblichen 90 Minuten geeicht. Der mentale Druck kommt hinzu, den sich der Star selber macht. Die eigene herausragende Position im Team, der eigene besonders hohe Marktwert muss, muss, muss durch einen verwandelten Elfmeter bestätigt werden! Da kann das hochbezahlte Knie schon mal ins Wackeln kommen. Die Superstars, die schon im Elfmeterschießen gescheitert sind, sind Legion. Robben, Drogba, Beckham - die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Subtil verabreichte psychologische Kniffe des Torwarts können den Druck auf diese Schützen manchmal noch entscheidend erhöhen.

Aber meistens steht man als Torwart nicht einem coolen Elfmeterspezialisten gegenüber, und auch nicht dem Superstar der anderen Mannschaft, sondern einem gewöhnlichen Schützen. Der gewöhnliche Schütze hat, besonders wenn er schon zwei schwere Stunden in den Beinen hat, in der Regel ein bevorzugtes Eck. Die „Listen“ der bevorzugten Ecken sind, spätestens seit Kahn dem Lehmann seine gab, bekannt und für die Torwarttrainer Routine. Aber auch, wenn da einer zum allerersten Mal zum Elfmeter antritt, kann ein guter „Elfmetertöter“ aus der Haltung im Anlauf, aus der Fußstellung und daraus, wie er ihn zuvor im Spiel gesehen hat, in Sekundenbruchteilen mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit auf das bevorzugte Eck schließen. Auch heute zeigt es sich wieder, bei diesem Elfmeterschießen: Beide Keeper fliegen fast jedes Mal ins richtige Eck. Mit Statistik ließe sich das nicht erklären. Es ist die Erfahrung.

Ein normaler Schütze wird in der Regel nicht mit Vollspann drauf hämmern. Ein normaler Schütze wird in dieser Ausnahmesituation - konditionell schon angeschlagen, psychisch unter Druck - eher der größeren Zielgenauigkeit des Innenrists vertrauen. Und da kann man aus der Körperstellung beim Anlauf sehr wohl ablesen, wohin der Ball wahrscheinlich kommen wird. Genau dieses würde es zwar versierteren Schützen auch ermöglichen, den Torwart gezielt zu „verladen“. Aber auch dieses ist eben eine Verkomplizierung des Bewegungsablaufes, die vielleicht einem Elfmeterspezialisten zur Verfügung steht, (ebenso wie die sehr anspruchsvolle Variante, im Anlauf kurz zu verlangsamen und die Reaktion des Torwarts auszuspähen und darauf noch blitzschnell zu reagieren und in die andere Ecke zu schießen,) - die aber beim normalen, durchschnittlichen Elfmeterschützen oft zu einem Fehlschuss führt. Und, wie bereits gesagt: Beim heutigen Elfermeterschießen werden die Keeper fast immer ins richtige Eck fliegen und gerade nur einmal bei den zehn Schüssen wird ein Keeper erfolgreich „verladen“. - - -

Willian probiert es, den chilenischen Keeper zu „verladen“. Der chilenische Torwart Bravo landet im einen Eck, der Ball streicht am anderen vorbei. Verschossen! Die Begeisterung im Stadion weicht purem Entsetzen. Der Vorteil ist wieder dahin. Im Gegenzug tritt der chilenische Star Alexis Sánchez an. Er hält dem Druck nicht stand. Auch der zweite, schwach geschossene chilenische Elfmeter wird von Cesar gehalten. Wieder brandet begeisterter Jubel auf. Es ist eine Achterbahn der Gefühle.

Als dritter geht Marcelo für Brasilien an den Elfmeterpunkt. Bravo fliegt ins richtige Eck, ist fast noch mit den Fingerspitzen dran, aber Marcelo hat zu scharf und präzise geschossen. 2:0. Auch Aránguiz trifft dann für Chile, obwohl Cesar die richtige Ecke geahnt hat. 2:1.

Hulk tritt nun für Brasilien an, Brasiliens Star Nummer zwei hinter Neymar. Und er hält dem Druck nicht stand! Bravo kennt sein bevorzugtes Eck und kann seinen schlecht plazierten Schuss parieren. Wieder wurde der brasilianische Vorteil verspielt. Man kann vermuten, dass hier nun die Herzattacken passiert sind. Auf der Gegenseite nützt Díaz die Gelegenheit zum Ausgleich. 2:2. Jedes Team hat jetzt noch einen Schuss. Wenn es auch danach immer noch Unentschieden steht, müssen Spieler antreten, die eigentlich nicht antreten wollten.

Der fünfte Elfmeter ist oft der entscheidende. Jetzt ist die Reihe an den Spezialisten. Neymar wählt die anspruchsvolle Variante, verlangsamt kurz den Anlauf, schaut sich die Reaktion von Bravo aus und verwandelt dann cool ins andere Eck. Dann tritt Jara für Chile an. Ein scharfer Schuss, vom Schützen aus ins rechte untere Eck. Cesar fliegt wieder ins richtige Eck, kommt aber nicht an den scharf geschossenen Ball. Aber Jara hat zu gut gezielt. Oder eben doch nicht gut genug. Es ist der eine unter zehn Elfern, den er auch mal verschießt. Vom Innenpfosten knallt der Ball beinahe noch an Cesars Rücken, aber knapp dreht er sich daran vorbei und um den anderen Pfosten ins Seitenaus. Mit viel Glück ist Brasilien mit einem 3:2 im Elfmeterschießen weiter gekommen.


4 Elfmeterschützen

Von vier der brasilianischen Elfmeterschützen habe ich die Sammelkarten. Chilenische dagegen überhaupt noch keine. Jetzt brauche ich die Chilenen aber auch nicht mehr.

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