Die männlichen Werte


„Mei, is der fesch!“ Ich sitze mit meiner Partnerin vor dem Fernseher und wir schauen uns das Match zwischen Italien und Uruguay an. Sie meint den italienischen Keeper Gianluigi Buffon. -

„Musst du jetzt so punktgenau das Klischee verkörpern von der Frau, die nur alle zwei Jahre Fußball schaut und dann nur auf die schönen Männer acht gibt? Es gibt doch auch noch andere Werte, nicht nur das attraktive Äußere. Denk nur zum Beispiel an das Jahreseinkommen der Männer auf dem Feld! Denk an ihren Kontostand! Zählt denn das gar nicht?“ -

„Doch, schon.“ Sie tippt auf ihrem Tablet herum, unterbricht das Computerspiel, und bestätigt nebenbei ein weiteres Klischee: Frauen sind in der Regel bitaskingfähiger als die Männer. Sie googelt nach Buffons Jahreseinkommen. „Ja, nicht schlecht“, sagt sie. „Aber hier steht auch, er hätte verschiedentlich schon Sympathien für die extreme Rechte gezeigt. In der italienischen Liga wollte er die Rückennummer 88 auf dem Trikot haben, den bekannten Code der Neonazis für `Heil Hitler´. Und es gab da noch weitere Vorfälle. Da kann er mir jetzt aber doch gestohlen bleiben. So ein Arsch!“ -

„Schau hin!“ Ich versuche, ihre Aufmerksamkeit wieder aufs Fernsehbild zu lenken. „Den Andrea Pirlo mag ich! Er ist die personifizierte Spielintelligenz. Ein Mann mit Spielintelligenz kann doch auch sonst nicht ganz blöd sein, oder was meinst du? Autsch! Jetzt haben sie ihm wieder eine mitgegeben.“

Das Spiel wird hart geführt. Mit gestreckten Beinen geht es in die Füße des Gegners. Im Luftkampf sind immer schön die Ellenbogen ausgefahren. Es gibt Kratzspuren zu sehen, knapp unterhalb des Auges. Mit den Stollen werden die Oberschenkel der Gegner traktiert. Kaum ein Zweikampf endet, ohne dass ein Spieler am Boden liegt. Das Spiel ist nichts weniger als brutal. „Jetzt hätte der Schiri wieder mindestens Gelb geben müssen! Die lassen hier alles laufen bei dieser WM. So könntest du dir doch auch deine Favoriten erwählen: Wer nach solch einem Match nicht im Krankenhaus liegt, hat offenbar eine gute Kampf- und Widerstandskraft und ist genetisch und mental gut präpariert für ein modernes Leben als Gladiator oder als Führungskraft in der Wirtschaft.“ -

„Da schau! Den kenne ich!“ sagt sie. -

„Ja, das ist der Balotelli. Vor zwei Jahren hat er die Deutschen mit seinem Tor aus dem Turnier geschossen und sich danach entblößt und den Frauen vor den Fernsehgeräten seinen Muster-Body vorgezeigt. Der macht schon was her. Aber nach allem, was ich weiß, wirst du nicht unbedingt dabei sein wollen, wenn er seinen Mund aufmacht und Wörter heraus kommen.“ -

„Dann ist er wohl eine Art italienischer Arnautovic?“ Manchmal verblüfft sie mich denn doch mit ihrer fußballerischen Sachkenntnis. Kurz darauf lässt sich Balotelli prompt provozieren und bekommt, auch ohne sich entblößt zu haben, die zweite gelbe Karte im Turnier. Damit wäre er im Achtelfinale gesperrt. Kurz darauf wird Pirlo ausgewechselt. Es ist tatsächlich nicht der Tag des fein gedachten filigranen Fußballs. Die Treterei geht weiter. Und kurz vor Schluss passiert dann das noch nie Dagewesene …

Oliver Kahn ist ein ausgewiesener Experte, um es im ZDF zu erklären: „Man kann es nicht erklären. Das Spiel steht spitz auf Kopf. Es geht um so viel. Du bist voll mit Adrenalin bis in die Haarspitzen. Du willst unbedingt, du musst gewinnen. Und dann kommt so ein Zweikampf, und dann beißt du schon auch mal zu.“ Das noch nie Dagewesene ist sehr wohl zuweilen schon da gewesen. Oliver Kahn hatte in seiner aktiven Zeit einen Gegner gebissen. Und Luis Suárez, der heute nach einem Eckball den Italiener Giorgio Chiellini in die Schulter gebissen hat, hatte sogar schon zweimal zuvor in Ligaspielen zugebissen.

Der Schiedsrichter hat es nicht gesehen. Chiellini zeigt ihm die Bisswunde. Luis Suárez sitzt derweilen am Boden und tastet sich mit einer Miene, als wäre er gerade aufs übelste gefoult worden, die schmerzenden Beißwerkzeuge ab.

Die Szene wird noch ein Nachspiel haben. Für Tätlichkeiten, die nicht während des Spiels geahndet werden, aber mit Videos zu beweisen sind, ist der FIFA-Ausschuss zuständig, und Suárez wird noch eine Strafe ausfassen.

Trotzdem hat er, man weiß nicht wie, wieder sein Ziel erreicht. Denn eine Minute später schießen die Urus in einer ähnlichen Situation das goldene Tor und kommen somit weiter.

Suárez macht es immer so. Er ist eben ein Kampfschwein. Bei der WM vor vier Jahren war er es, der mit einem Handspiel auf der Linie Ghanas Siegtor in der letzten Minute verhindert hatte. Er bekam dafür Rot, aber Ghanas anschließender Elfmeter wurde verschossen, Uruguay rettete sich in die Nachspielzeit, gewann danach das Elfmeterschießen, und wurde schließlich Turnierdritter. Er macht es immer so. Er kann nicht anders. Fairness ist nicht etwa ein Fremdwort für ihn. Nein, in der Hitze des Gefechts, und weil er halt ein Kampfschwein ist, scheißt er nur einfach drauf.


Suarez Neu

(Luis-Suarez-Sammelkarte,
mit einem aufgeklebten Pressefoto
auf den neuesten Stand gebracht.)


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