Endlich ist es soweit. Die Entscheidung steht ganz kurz bevor. Nur ein paar Kollegen liegen noch über mir. Es kann sich nur noch um Minuten handeln.

Heute morgen hat mich Jens-Holger mit den anderen für sein Tagespensum auf seinem Schreibtisch bereit gelegt. Jens-Holger ist noch jung, um die Ende Zwanzig. Er hat kurze, blonde Haare und trägt immer karierte Hemden. Von der körperlichen Erscheinung her ist er ein reines Klappergestell. Körperlich ist er eigentlich so gut wie nicht vorhanden. Eigentlich ist er nur Geist. Weshalb er auch gut in seine Umgebung passt hier im Verlag.

Die Meinungen unter den Manuskriptkollegen, ob es wünschenswert sei, von Jens-Holger entschieden zu werden, sind geteilt. Stets kommt er in der Früh als erster hier an und nimmt dann sein besonderes Vorwahlrecht in Anspruch und sucht sich aus dem Tagespensum die für ihn interessanter wirkenden Manuskripte heraus. Dies lässt viele von uns zu Jens-Holger als Wunschlektor tendieren. Denn wer möchte nicht noch vor der eigentlichen Entscheidung wenigstens die kleine Hürde schon genommen haben, von Jens-Holger als potentiell interessant anerkannt worden zu sein? Weiters nimmt viele für ihn ein, wie konsequent er sich zu jedem begutachteten Werk Notizen macht. Bei ihm gibt es keinen Schlendrian. Er arbeitet schnell und gleichmäßig. Auf der Negativseite schlägt bei ihm natürlich zu Buche, dass er, solange ich hier im Verlag bin, noch kein einziges Manuskript angenommen hat. Aber das fällt so stark nun auch wieder nicht ins Gewicht. Denn das war beim übrigen Lektoratspersonal auch nicht anders.

Oft, wenn er schlecht gelaunt war, erschien vielen von uns sein Urteil als zu hart. Und so versuchte ich natürlich gleich, seine Tagesform einzuschätzen. Gleich in der Frühe hatte er einen Witz gemacht. Das könnte ein gutes Zeichen gewesen sein. Oder ein schlechtes. Denn normalerweise macht er eigentlich keine Witze. Die Akne in seinem Gesicht jedenfalls ist in den letzten Tagen wieder auf das normale Niveau zurückgegangen.

Eben wird gerade wieder ein Kollege vor mir abgelehnt. Ich sehe mich in den Räumen um. Die letzten viereinhalb Monate habe ich jetzt hier verbracht. Wieviele hoffnungsfrohe Manuskriptkollegen habe ich in dieser Zeit den Retournierbach hinunter gehen sehen! Immer wieder diese Abschiede! Jeden Tag Abschiede. Abschiede von Hunderten von Manuskriptkollegen, immer flankiert von ihren Niederlagen. Es war eine verdammt harte Zeit. Ich bin froh, dass es jetzt bald vorbei ist. Übertriebene Hoffnungen mache ich mir hier schon lange nicht mehr. Man wird hier ganz unweigerlich Realist. Tief atme ich durch. Ich werde ruhig. Sei’s wie es sei, denke ich mir, und komme, was da wolle. Es wird mich nicht treffen, egal wie die Entscheidung ausfallen mag, denn ich weiß ja, was ich kann.

Dann ist es soweit.

Jens-Holger nimmt mir das Exposé ab. In nicht einmal fünf Sekunden hat er den Inhalt in sich aufgenommen. Dann macht er sich Notizen. Auf den Block vor sich schreibt er den Autornamen und meinen Titel. Darunter noch zwei Großbuchstaben, ein „I“ und ein „U“. Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten mag. „I“ – heißt das vielleicht „interessant“? „U“ – bedeutet das „ungewöhnlich“? Ich weiß es nicht.

Dann nimmt er mich endlich auch selbst zur Hand. Mit den Fingern über die Seiten streifend blättert er mich langsam von vorne nach hinten durch. Will er mir jetzt, wie er es oft tut, eine per Zufall gewählte Stichprobe entnehmen? Er blättert fast bis nach hinten. Auf Seite 243 bleibt er mit dem Finger hängen und schlägt mich auf. In Sekundenbruchteilen liest er mir die Stelle ab: –

Sie hat einen dunklen Teint. Sie trägt einen roten Kittel hier in der Arbeit, und Seidenstrümpfe. Sie ist gar nicht mehr ganz jung. Um es genau zu sagen: sie ist beinah in meinem Alter.

Ein flüchtiges Grinsen huscht über Jens-Holgers Gesicht. Ich weiß noch gar nicht, ob ich es nur ein dämliches Grinsen finden soll oder doch ein dämonisches, da ist Jens-Holger bereits wieder ernst. Er macht sich eine Notiz. In seinem Schoß liegend kann ich jetzt leider nicht mehr erkennen, was er da schreibt.

Wieder wird in mir geblättert. Er blättert mich ganz durch! War’s das schon? Nein. Auf Seite 299 bleibt sein knochiger, aber gut durchtrainierter Blätterfinger doch noch einmal in mir hängen. Wieder schlägt er mich auf, und ich spüre, wie er mir abliest: –

Im Grün verborgen zwitschern Vögel. Ab und an fährt hinter der Mauer zur Straße ein Auto vorbei. Jetzt trappelt da ein Pferdefuhrwerk. Es fährt auf die Felder, oder vielleicht zum Markt. In einem der Nachbargärten

Für eine Zehntelsekunde schnellen Jens-Holgers Pupillen nach oben hinter die Lider und ist nur das Weiß seiner Augäpfel zu sehen. Er schnauft zufrieden, es ist fast ein Röcheln. Wieder macht er sich eine Notiz. Er nimmt mich dann zur Hand, holt mit dem Arm weit aus und in hohem Bogen wirft er mich durchs Lektoratszimmer. Ich lande in dem Wäschekorb bei der Post zum Retournieren, halb auf den vor mir abgelehnten Kollegen, halb knalle ich gegen das Gitter der blauen Hartplastikwand, und verstauche mir dabei noch schmerzhaft das Schlusskapitel.

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