02. Oktober 2007

Text der Woche –
aus der Reihe „Vor zehn Jahren erschien …“

Manchmal ist es schon verwunderlich, wie Texte, die ich vor zehn Jahren geschrieben hatte, jetzt, zehn Jahre später, eine neue Aktualität entfalten. Im folgenden Falle ist es das weniger.

Denn der folgende Text aus dem Literarischen Zeitvertreib Nr. 6 vom Oktober 1997 handelte bereits ebenfalls schon von einem runden Jubiläum: Der „Deutsche Herbst“ war damals gerade 20 Jahre her. Heute sind’s jetzt also 30, und da ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Kulturindustrie auch heute wieder den runden Jahrestag zum Anlass nimmt, ihn in würdiger Weise mit einem Meilenstein von einem neuen Gedenkerzeugnis zu begehen. Konkreter gesprochen steht heute nun also Stefan Austs „Baader-Meinhof-Komplex“ vor der zum Jahrestag passenden Uraufführung, während sich damals, zum Jubiläum vor zehn Jahren, Heinrich Breloer mit seinem „Todesspiel“ und auch Peter-Jürgen Boock darinnen an der mit den diversesten Komplexen behafteten Thematik abarbeiten durften.

„Todesspiel“

„Todesspiel“ war das Fernsehereignis 1997. Heinrich Breloers 2-teiliger Fernsehfilm zu den Ereignissen vor 20 Jahren in und um Stammheim und Mogadischu hatte Rekordeinschaltquoten. Er wurde bereits im Westdeutschen Rundfunk wiederholt. Eine weitere Sendung ist im Rahmen eines arte-Themenabends geplant. 

Dass ausgerechnet Breloer, dem vom Äußeren her nicht anzusehen ist, dass er sich mit Hilfe seiner bisherigen Filme von einer starken Vaterbindung lösen konnte, somit, zumindest was den Verbreitungsgrad angeht, die definitive Geschichtsschreibung dieser schwersten innenpolitischen Krise der BRD liefern würde, war von vornherein nicht unbedingt zu erwarten. Eigentlich bringt er dafür nicht die nötige Qualifikation mit. Die Action-Szenen waren mäßig bis mies. Die Blendschockgranate war ein billiger Silvesterkracher. Die Treffer der Männer von der GSG 9 waren nicht deutlich genug zu sehen und wirkten gar nicht besonders brutal. Außerdem waren die Schnitte zwischen den nachgestellten Szenen, den authentischen Bild- und Tondokumenten und den Interviews etwas verwirrend. In der Historiografie ist sonst bei solchen Vermischungen mehr Transparenz üblich. Historiografisch wäre es geboten gewesen, die Interviews, Bild- und Tondokumente deutlicher von den Szenen zu trennen, vor denen es in der Buchfassung des „Todesspiels“ heißt: „So könnte es sich angehört haben“, „Ich stelle mir vor“ , „So mochte die Situation sein“ oder „Vielleicht war es so …“,* um den Verdacht auszuräumen, den Spielszenen solle durch die Dokumente mehr Authentizität verliehen werden, als sie beanspruchen dürften.

Ja, Breloer hat das „Todesspiel“ auch in Buchform herausgegeben. Das ist nicht nur geschäftstüchtig, sondern auch lobenswert. Nicht, weil es für den Geschichtsunterricht in der Schule geeignet wäre – dafür ist sein Deutsch zu schlecht. Sondern weil in der Buchfassung die Story nicht so vorbeirauscht und Platz bleibt für Breloers Reflexionen und die unseren darüber, was Breloer doch für ein sonderbarer Mensch ist. 

Ein Beispiel: Eine der eindrucksvollsten Sequenzen in der Fernsehfassung war die mit dem harten Schnitt von den nachgestellten Szenen des Terrors gegen die Geiseln im Flugzeug zu den Interviews Breloers mit den echten ehemaligen Geiseln, die gerade verwirrt seiner Aufforderung nachkommen, die Hände über den Kopf zu nehmen genau wie damals. Dabei musste der Eindruck entstehen, Breloer nehme die ehemaligen Geiseln, indem er sie mit seiner Aufforderung terrorisierte, quasi als Geiseln, um die terroristische Wirkung auch der von ihm nachgestellten Szenen zu steigern. Das „Todesspiel“ in Buchform aber belehrt uns in der Vorbemerkung darüber, dass Breloer dies ganz anders sieht, und zwar so: „Manche von ihnen haben erst jetzt den Mut gefunden, diese Reise innerlich noch einmal anzutreten. Ich bin ihnen dankbar, daß ich sie dabei begleiten durfte.“ Zum Dank haben die ehemaligen Geiseln jetzt ein Exemplar des „Todesspiels“ im Bücherregal, in dem sie selbst vorkommen. Sogar ihr Sein und Wesen vor der schweren Traumatisierung durch die Geiselnahme findet bei Breloer Platz: Bevor sie „in den Strudel der Weltgeschichte gerissen“ wurden, waren sie, wie Breloer kurz und bündig sagt, „glückliche Ferienmenschen“. 

Ob Breloers andere Geisel der Zeitgeschichte im „Todesspiel“, ob Breloers Kronzeuge Peter-Jürgen Boock auch ein Exemplar in seinem Bücherregal stehen hat? Boock wird im „Todesspiel“ „Tony genannt, weil er sich selber in seinen Erinnerungen zu einer Figur verdichtet hat.“ Ob Boock zuweilen, wenn die Erinnerung verblasst oder sich die verschiedenen Versionen der Kronzeugen widersprechen, das Buch zur Hand nimmt und dort nachschlägt, wo es heißt: „Boock sagt, Tony habe …“? Immerhin könnte er dort, wenn alle Kronzeugen unterschiedliche Variationen bieten, nachlesen, wer denn nun die Waffen in den Stammheimer Knast geschmuggelt hat: „Sie hatten sich doch alle mit den eingeschmuggelten Waffen beschäftigt.“ Dort wird auch seine Aussage, er hätte nie im Leben auf Bullen geschossen, nur mit einem kleinen Fragezeichen versehen. Dort wird auch beschrieben, wie ihn Andreas Baader und Gudrun Ensslin aus dem Heim geholt hatten, weshalb er ihnen die Guerillatätigkeit und den Befreiungsversuch „schuldig“ war und an anderer Stelle heißt es über die „Drei von Stammheim“: „Sie waren wie Papa und Mama, eine Autorität, deren Auftrag man erst mal ausführen mußte.“ Darauf kann Boock sich mit dem Buch berufen! Dort wird ihm auch attestiert, der verdichtete Tony hätte selbst keine Deprivationsforschung betrieben, indem er Schleyer in einen licht- und schalldichten Wandschrank im Volksgefängnis sperrte. Damit hätte er nur gedroht. Nur wenn Schleyer Ärger gemacht hätte, hätte das Kommando ihn einer Isolationsfolter unterworfen von der Art, wie sie nach einer Desinformationskampagne der RAF Praxis gegen die politischen Gefangenen in Knästen wie in Stammheim war, wodurch wiederum das Bundeskriminalamt und sein Chef Herold erst gelernt hätten, was eine Desinformationskampagne überhaupt ist, was ihnen später durchaus von Nutzen war. Solch komplexe Zusammenhänge kann Boock jetzt anhand des Buches jederzeit in seinem Gedächtnis auffrischen, sollte ihm mal entfallen, was `77 wirklich Sache war.

Breloer musste gewisse Rücksichten nehmen. „Unter den Namen Karla, Anne, Flipper, Harry und Bille fiel es mir – auch aus juristischen Gründen – leichter, Personen der Zeitgeschichte in einem Spiel als Figuren zu bewegen.“ Diese sind also weitere Tonys, „reale, zum Teil auch zusammengezogene und verdichtete Personen“, die wie dieser aus einem schlechten Milieu kamen, das Breloer sich in seinem Buch so ausmalt und auf den Satz verdichtet: „Autos wurden grundsätzlich ohne Führerschein gefahren.“ 

Auf der anderen Seite, auf der gesetzestreuen und rechtsstaatlichen, sitzen im „Todesspiel“ weitere zusammengezogene und verdichtete Personen im Krisenstab. Der Bundeskanzler Schmidt, dessen Machtfülle Breloer schwer beeindruckt hat, ist sozusagen der Herr im Haus und nicht nur eiskalt und aalglatt, wie wir immer gedacht haben. Zuweilen zaudert und zögert er sogar, „schaudernd vor den vielen auch schrecklichen Möglichkeiten auf dem Schachbrett.“ Breloer schaudert ebenfalls, als dann Schmidt die Kollegen im Krisenstab auffordert, „auch das Undenkbare zu denken“. Das Undenkbare: Für Breloer wäre das zum Beispiel ein Rechtsbruch des Rechtsstaates. Doch gemach! Wenn es Breloer und dem Bundeskanzler schaudert vor den vielen auch schrecklichen Möglichkeiten auf dem Schachbrett, zieht ersterer ihn zusammen mit einer weiteren verdichteten Person der Zeitgeschichte: Mit Hans-Jochen Vogel. Einer, auf den Verlass ist. „Der Justizminister wird sich in den nächsten Wochen immer dann, wenn jemand diese Grenze, die selbstgewollte und schützende Grenze des Rechtsstaates, überschreiten will, lautstark zu Wort melden.“ 

Bei den Abhörmaßnahmen gegen den vermittelnden Genfer Anwalt Payot – „nicht, daß es gerade legal wäre. Eigentlich war es illegal.“ – und bei der wochenlang illegalen Praxis der Kontaktsperre, bis sie im Nachhinein durch den Bundestag gesetzlich geregelt wurde, zeigt Breloer auf, wie sich die Gegner einander angleichen: Gesetzesbrüche auch durch die Bundesregierung und kein Justizminister, der sich lautstark zu Wort meldet! Doch als dann im Krisenstab sogar über standrechtliche Erschießungen der Gefangenen in Stammheim diskutiert wird, hat Vogel, als schon niemand mehr damit rechnet, doch noch seinen Auftritt: „Meine Herren! Hier ist eine absolute Barriere. Das läßt schlechterdings die Verfassung nicht zu!“ Prompt wird im Krisenstab das Denken von Undenkbarem eingestellt. Die weiteren der dort beschlossenen Schachzüge: Die Nachrichtensperre, eine „merkwürdige Geschichte, die in ihrer Planung und Durchführung bis heute nicht annähernd erforscht und erzählt ist“, der Einsatz eines Silvesterkrachers, die Erschießung der Flugzeugentführer und dass Schleyer ins Gras beißen muss, sind durch die Verfassung gedeckt. Sie hat auch nichts gegen die Selbstmordversion einzuwenden.

Die These vom Selbstmord der „Drei von Stammheim“ wird gestützt durch erstens Breloers Recherchen, in welchem Plattenspieler wie und wo Andreas Baaders Schusswaffe versteckt gewesen sein könnte, wobei erstaunlich ist, dass vor Breloer niemand darauf kam. Zweitens durch eine Zeugenaussage jenes Herrn Klaus vom BKA, der gewisse Andeutungen, Baader befürchte die Ermordung der Gefangenen, zwar nicht sofort, aber Jahre später als verschlüsselte Selbstmordankündigung interpretierte. Herr Klaus ist unbedingt glaubwürdig, schließlich war er „HJ-Verweigerer, der im Dritten Reich auf eines der Kriegsschiffe der deutschen Marine geflüchtet war, um nicht an den Brutalitäten der Nazis direkt beteiligt zu werden.“ Und drittens durch das perfide Verhalten der überlebenden Vierten von Stammheim, Irmgard Möller, die bis heute leugnet, die Vier hätten sich selbst töten wollen, was, wenn Undenkbares nicht gedacht wird, nur damit zu erklären ist, dass wer abstreitet, zugibt. Breloer hat Möllers Unverschämtheit damit geahndet, dass er darauf verzichtete, sie um ein Interview zu bitten, und zur Strafe zu eben den „Dreien von Stammheim“ verdichtet.

Wie dem auch sei – die Drei von Stammheim sind tot. Bezüglich des Verlaufs der Killeraktion der GSG 9 in Mogadischu hatte Schmidt Glück, wie Breloer weiß: „Ein Wort, das in der Diplomatensprache gerne mit `fortune´ übersetzt wird.“ Boock hat im Gespräch mit Breloer, dem ausgewiesenen Experten für Generationenkonflikte, eingesehen, dass er und seine GenossInnen im Endeffekt nicht anders gehandelt haben als die Väter und Großväter damals, als die Nazis. Jene wiederum, die ehemaligen Wehrmachtssoldaten im Krisenstab, haben während der Krise dank Breloers genialen Einsatzes eines Justizministers die rechtsstaatliche Kurve gekriegt, und also wurde eine Demokratie gerettet, die mit dem Satz „Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe wurden am 17. Oktober in Stammheim vom Staat ermordet“ zu verunglimpfen verboten ist. In der es aber sehr wohl Meinungsfreiheit gibt, so dass gesagt werden darf: „Ich bin immer noch der Überzeugung, dass Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe am 17. Oktober 1977 in Stammheim vom Staat ermordet wurden.“ Diese Unterscheidung ist zwar ziemlicher Nonsens, aber so ist das eben in diesem Staat.

* Alle kursiv und in Anführungszeichen gedruckten Zitate sind aus der Buchversion des „Todesspiels“ von Heinrich Breloer, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1997

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