Die Nürnberger Hefte, revisited

21. Juli 2007

„Rechengeschwindigkeiten“

Im Wissenschaftsteil der heutigen Ausgabe des Standard findet sich ein Artikel, der einer Prognose aus meinem Literarischen Zeitvertreib Nr. 5 von vor zehn Jahren im Prinzip recht gibt und sie im Detail aber auch korrigiert. Vor zehn Jahren hatte ich die folgende kurze Glosse geschrieben: –

Deep Blue

Der inoffiziell amtierende Schachweltmeister hört auf den seltsamen Namen „Deep Blue“. Dass er kürzlich den offiziellen besiegte, hatte die Ursache: Menschliches Versagen.

Denn weder ist es bisher gelungen, etwas ähnliches wie menschliche Intelligenz oder Intuition maschinell auch nur ansatzweise zu erzeugen, noch gibt es bisher Computer, deren Kapazität ausreichen würde, das Schachspiel in allen möglichen Zugvariationen auszurechnen. In diesen beiden Richtungen wird mit Hochdruck geforscht, obwohl es doch angesichts der Entwicklung der Speicherkapazitäten und Rechengeschwindigkeiten absehbar ist, dass der mathematische Weg das Rennen machen wird.

Deshalb rufe ich der Branche zu: Schuster, bleib bei Deinen Leisten! Schon bald wirst Du das Schachspiel ausgerechnet und somit entzaubert haben. Auf jede Eröffnung wirst Du die richtige Antwort wissen. Du brauchst deshalb aber kein schlechtes Gewissen zu haben, denn wir haben auch weiterhin die Möglichkeit, spannende Partien zu erleben, aber leider nur, wenn wir auf Deine Geräte verzichten. Ein Riesenabsatzmarkt der Zukunft wird das also nicht. Deine Forschungsinvestitionen in Sachen Schachcomputer sind in den Sand gesetzt. Aber das hättest Du Dir auch selbst ausrechnen können! – – –

Und im Standard steht also heute: –

Unbesiegbarer Dame-Spieler
Kanadier entwickelten Brettspiel-Software

Washington – Gegen „Chinook“ eine Partie Dame zu spielen, ist fad. Denn gewinnen ist definitiv ausgeschlossen. Kanadische Wissenschafter haben in 18 Jahren mühevoller Programmierarbeit eine Software entwickelt, die alle 500 Trillionen möglichen Zugkombinationen im Damespiel beherrscht und damit unschlagbar ist, berichtet die US-Wissenschaftszeitschrift Science in ihrer aktuellen Ausgabe.

Vater des schlauen Gerätes ist Jonathan Schaeffer, Professor für Informatik an der Universität von Alberta in Kanada, der es gemeinsam mit mehreren Informatikern der Hochschule entwickelte.

„Das ist ein echter Durchbruch im Bereich der künstlichen Intelligenz“, kommentierte Jaap von den Herik, Herausgeber der Zeitschrift International Computer Games Journal. Bei der Entwicklung von „Chinook“ waren seit 1989 täglich mindestens 50 Computer im Dauereinsatz, zu bestimmten Zeiten sogar mehr als 200. (AFP, APA) – – –

Heißt also, mich bestätigend: Der rechnerische Weg macht das Rennen, was die Branche amüsanterweise auch heute noch von einem „echten Durchbruch im Bereich der künstlichen Intelligenz“ ins Schwärmen geraten lässt, obwohl doch in Wirklichkeit bloß ein Rechengerät so perfekt geworden ist, dass seine praktische Anwendung nur noch die reine Fadesse verströmt.

Und, mich korrigierend: Beim komplexeren Schachspiel wird es – was ja durchaus auch erfreulich ist – nicht „schon bald“ so weit sein. Da wird es wohl noch ein Weilchen dauern.

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