Wo war ich stehen gebieben? – Zu subjektiv und freischwebend sei meine Literatur, hatte der Redakteur gesagt. Das ist nun in der Tat ein Vorwurf, den ich immer wieder zu hören bekomme. Treu wie ein Hund hatte er mich schon durch mein ganzes literarisches Werk begleitet. Die Regelmäßigkeit, mit der er kam – wohl oder übel werde ich den Einwand wohl als den gewichtigsten gegen meine Literatur anerkennen müssen. Selbst würde ich das zwar lieber ansehen wollen als einen ausgeprägten Individualismus, der da in meinem Werk zum Tragen kommt. (Und den ich übrigens auch abseits der Literatur nur weiter empfehlen kann, prophylaktisch, und als Heilmittel für so dies und das.) Aber in der Literatur und besonders in der Belletristik ausgelebt kommt mein ausgeprägter Individualismus eben für viele als ein übersteigerter Subjektivismus daher.

Schon beim ersten Buch, schon beim „Taxi-Tagebuch“ hatte ich darüber erbitterte Debatten geführt. Eine Lektorin hatte mir schon damals empfohlen, ich möge doch in zukünftigen Büchern klarer trennen zwischen dem Dargestellten und seiner Bewertung. Ich hatte darauf erbost reagiert und ihr unterstellt, sie wünsche sich dann wohl einen Taxifahrer, der die Dumpf- und Dummheiten seiner Fahrgäste widerspruchslos hinnimmt, aber bei diesem Taxifahrer sei das eben genau nicht der Fall. Außerdem würden wir hier nicht über bürgerlichen Journalismus debattieren, in welchem ausgewogen dargestellt werden müsse, und anschließend gebe es manchmal noch, aber bitte klar abgesondert und als „Kommentar“ gekennzeichnet, eine Meinung dazu. Nein, hier gehe es um Kunst!

Ein weiterer Lektor hatte gegen das „Taxi-Tagebuch“ ähnlich, aber nicht so formal argumentiert, indem er mir zu bedenken gab, Lektoren seien auch eitel. Er selbst zum Beispiel würde sich ebenfalls lieber eine eigene Meinung bilden, anstatt sich zu einer, die er vom Autor fertig vorgesetzt bekomme, positionieren zu müssen. Das kann schon gut sein, hatte ich mir da gedacht, dass die Eitelkeit der Lektoren und die meinige sich im Wege stehen. Aber, rein vom literarischen Standpunkt betrachtet – ging es denn hier nicht um ein Tagebuch? Das sei mir nun neu, hatte ich argumentiert, dass man sich jetzt auch schon in der Gattung des Tagebuchs mit persönlichen Meinungen und Einschätzungen zurück zu halten hätte. So und so ähnlich fielen damals, bei meinem ersten Buch, die Verteidigungen gegen den Subjektivismuseinwand aus. Ich konnte die Einwender nicht überzeugen …

Heute sage ich es eher so: Die Lehrmeinung geht gewiss dahin, dass sich der Autor in der Schönen Literatur als Person zurückzunehmen und hinter seine Figuren zurückzutreten hat. Wenn er etwas zu sagen hat, dann soll er es durch seine Figuren und deren Konstellationen zueinander sagen, in der Form einer rein fiktiven Erzählung, und nicht dabei auch persönlich in Erscheinung treten. So geht die anerkannte Lehrmeinung. Das ist die tradierte Theorie des Romans. Und man kann dann eben diese Romane, die den klassischen Regeln folgen, mögen, oder nicht. Das ist Geschmackssache.

Daneben gab es immer Autoren, die dem tradierten Regelwerk nicht folgen konnten oder wollten. Sie haben dann entweder „den Roman weiterentwickelt“, sprich: die Regeln gebrochen, oder sie haben sich anderen Gattungen zugewandt, und immer wieder einmal hat einer auch etwas völlig Eigenständiges versucht und etwas formal ganz Neuem auf die Welt verholfen. In letztere Richtung ging, ich sag’s ohne Bescheidenheit, bei fast jedem meiner Bücher mein Bestreben.

Das „Zeit-Seminar“, dieses exakte Mittelding zwischen Roman und Sachbuch, steht hier jetzt nicht zur Debatte, da mir bei diesem Buch der Subjektivismusvorwurf ausnahmsweise einmal nicht gemacht wurde. Die Frage, die ich mir stellen muss, ist, ob er bei meinem jüngsten Buch, um das es hier geht, ob er beim „Philosoph auf Reisen“ berechtigt ist. Er ist es. Ich kann’s nicht leugnen. Ich bekenne mich schuldig, bei dem Buch wieder unter dem Vorwand, einen Genremix zu veranstalten, in diesem Falle zwischen Reisebericht und Roman, zwischen Tagebuch und Essay, zwischen Lyrik und Selbstversuch, mich vor allem auch selbst produziert zu haben. In allen meinen Figuren auch immer wieder selbst zu erkennen zu sein. Auch mit diesem Buch wieder auf literarischem Wege eine Selbsttherapie betrieben zu haben. Es entspricht dies meinem Naturell. Ich mag auch selbst Romane nicht, in denen ich den Autor nicht auch persönlich kennenlernen kann. Tagebuchverwandtes, Autobiographien, Briefe, Reiseberichte, allgemein gesprochen: autobiographisch Grundiertes und Fundiertes, nicht die reine Fiktion ist mein Ding. Mit meinen letzten zwei Büchern für die noch kaum existente Gattung des radikalliterarischen Selbstversuchs einiges geleistet zu haben, halte ich mir zugute. Die Gattung ist per definitionem extrem subjektivistisch und der Autor steht in ihr immer im Mittelpunkt, und was er sich von der Welt denkt; aber mit Hilfe dieses ihres ausgeprägten Individualismus erreicht sie immer wieder hübsch frei flottierende Zustände, und ihre stärksten Momente hat sie eh, wenn der Autor immer wieder einmal behelfs ihrer und in ihr ganz frei schwebt.

Es ist dies freilich nicht jedermanns Sache. Die meisten ziehen es vor, wenn man den Autor in den Büchern nicht sieht. Und einen Verlag, das hat sich ja jetzt gezeigt, gibt’s für die neue Gattung, die noch in den Kinderschuhen steckt, mit ihrem extrem übersteigerten Subjektivismus und voll ausgeprägten Individualismus, in diesen eher zur Bescheidenheit neigenden Zeiten jedenfalls nicht. 

Zurück zum vorigen Text Zurück zur Textliste Weiter zum nächsten Text